Web-Didaktik [Langfassung]

1 Aufbau der Wissensbasis in der Web-Didaktik

1.1 Grundbegriffe einer didaktischen Ontologie

Die herkömmliche Didaktik, die immerhin auf eine Tradition von mindestens vier bis fünf Jahrhunderten des Nachdenkens zurückgreifen kann und spätestens seit Comenius wissenschaftlich betrieben wird, antwortet auf die ontologische Frage nach dem Wesen von Lernmaterial mit der Angabe von fünf Kategorien: Ein didaktisches Objekt muss bestimmt sein

(1) in der Sachkategorie, d. h. es gibt ein thematisch formuliertes Problem, dem sich das didaktische Objekt zuordnen lässt; (semantische Kategorie)

(2) in der Zielkategorie, d. h. es gibt ein Können, das mit dem didaktischen Objekt korreliert; (Kategorie der Kompetenz/Performanz)

(3) in der Kategorie von Wissensarten, d. h. es gibt Antworten für spezielle Fragen und Probleme bzgl. des didaktischen Objektes: know-what, know-why, know-how, know-where und anderes mehr (Knowledge-Organisation-Kategorie)

(4) in der Kategorie medialer Präsentationsformen, d. h. es gibt mindestens ein Medium, in dem der Wissensinhalt angezeigt und damit sinnlich angeeignet werden kann; (Mediale Kategorie)

(5) in der Kategorie von Verlaufsformen, d. h. es gibt Methoden – im definierten Sinne – die den Verlauf der Aneignung von Wissen bestimmen können (relationale Kategorie)

Während die ersten zwei Kategorien im Wesentlichen die Ergebnisse der Aneignungsprozesse bestimmen – in der Sache sowie in dem Können, bestimmen die drei letzten Kategorien die Verlaufsform des Aneignungsprozesses und damit das Kernproblem des Lernens als einer Abbildung der Struktur der Sache in die Zeit der lernenden Aneignung. Diese Abbildung bestimmt sich eben dreifach: über die Wissensart als Antwort auf potentielle Fragen von Lernenden, über die mediale Präsentation der Antwort und über die logisch-didaktische Struktur des Verlaufs von Antworten (d. i. die Methode im engeren Sinne). Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass eine didaktische Entität fünffach bestimmt ist: problembezogen-thematisch (1), kompetenzbezogen pragmatisch (2), wissensbezogen-pragmatisch (3), in medialer Darstellung (4) und methodisch-operational (5).
Diese fünffach kategoriale Bestimmung von Wissenseinheiten im Bildungsbereich kann und muss noch einmal in einer anderen Dimension betrachtet werden. Sie ist bestimmt durch die Form der Aktivität des Lernenden: Will er entweder sich nur rezeptiv informieren oder will er eine Mensch-Maschinen-Interaktion eingehen oder will er mit anderen Menschen via Internet kommunizieren und kooperieren. Da diese Differenzierung nur die Wissensorganisation und die mediale Darstellung betrifft, ergeben sich aus der Kombination der beiden Dimensionen neun Metadatensätze, die den didaktischen Handlungszusammenhang vollständig beschreibbar machen.

Wenn man formale Ontologien als partikulare formalisierbare Theorien versteht, dann bestimmen sich die didaktischen Entitäten (in ihrem Sein) durch die Metadaten als ihre Prädikate in neun Bereichen. Die Entitäten (Wissenseinheiten) werden damit über ein kontrolliertes Vokabular bestimmt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Dimensionen rezeptiv, interaktiv und kooperativ disjunkt sind (entweder-oder).

Rezeptive Wissenseinheiten Interaktive Wissenseinheiten Kooperative Wissenseinheiten
Sachkategorie Drei- oder mehrstufiger Thesaurus (semantisches Netz)
Kompetenz­kategorie Schwierigkeitsgrad und Tätigkeits- bzw. Rollenbeschreibung
Mediale
Kategorie
Darstellungsmedien Interaktive Medien Kommunikations­medien
Wissens­kategorie Wissensart
(Antwort auf mögliche Frage des Lernenden)
Aufgabentypen
(Ausfüllen von Leerstellen)
Kooperationsformen
(Wissenskommuni­kation beim Lernen in der Gruppe)
Relationale
Kategorie
Sachrelationen zwischen den Lerneinheiten und
didaktische Relationen zwischen den Wissenseinheiten

Definition: Unter einer didaktischen Entität verstehen wir eine Wissenseinheit, die zum einen in fünffacher Hinsicht nach pädagogischen Kategorien (Zeilen der Grafik) bestimmt ist und zum anderen in drei sozialen Formen von Wissen sowie in drei medialen Formen unterschieden werden kann. Letzteres heißt, dass eine Wisseneinheit bestimmt wird, entweder

  1. als rezeptive Einheit in einem Darstellungsmedium (von der Größe einer Bildschirmseite)
    oder
  2. als eine in sich interaktive Einheit in der Größe kleinster interaktiver Lernsequenzen im Mensch-Maschinen-Modus (in der Regel drei bis fünf Minuten)
    oder
  3. als eine kooperative Einheit in einem Kommunikationsmedium, die sich über die Einheit von kommunikativen Aufgaben und Problemen zeitlich unterschiedlich definiert.

Diese zweite Dimension der Differenzierung ist pragmatisch motiviert und systematisch von einer allgemeinsten Unterscheidung im Hinblick auf die Dramaturgie des Lernens bestimmt. In 1. hat der Lernende die Rolle der Informationsaufnahme, er ist rezeptiv, seine Aktivität liegt in der Wahl der einzelnen Wissenseinheit und in der Reihenfolge der Wissenseinheiten sowie in der Aufenthaltsdauer bei denselben. In 2. ist der Lernende in eine Mensch-Maschinen-Interaktion eingebunden, in der er nach Art des CBTs, einer Simulation oder einer Aufgabe angeleitet wird. In 3. beruht die Aktivität der Lernenden in kommunikativen Tätigkeiten wie beispielsweise Brainstorming, Diskurs oder gemeinsamer Problemlösung. Alle diese drei Typen von Wissenseinheiten gilt es als didaktische Objekte in der Ontologie semantisch, nach Kompetenz, nach Wissensart, medial und sachlich-operativ zu bestimmen.

Das kontrollierte Vokabular ist zur Verschlagwortung von Lehr-Lern-Material entwickelt worden. Die semantische Bestimmung (Zeile 1 der Grafik) und die relationale Bestimmung (Zeile 5 in der Grafik) findet in einem semantischen Netz statt, das kurs-spezifisch erstellt werden muss. Die Knoten liefern dann die semantischen Metadaten und die Kanten werden über das kontrollierte Vokabular der Sach-Relationen benamt (named links).

Man kann also sagen: Ein Kurs bestimmt sich über das semantische Netz vorgegebener Inhalte, d.h. über den systematisch gegliederten Lern-Stoff. Die Knoten des semantischen Netzes werden Lerneinheiten genannt. Das semantische Netz bestimmt die Makroebene des Lernens. Die Lerneinheiten sind die Einheiten auf dieser Ebene. Sie können deshalb auch Makroeinheiten genannt werden.

Die Zielkategorie (Zeile 2 der Grafik) als zu erwerbende Kompetenz wird zur freien Konfiguration vorgehalten, damit es möglich ist, unternehmens- und institutionspezifische Definitionen vorzunehmen. Dies könnte klassifikatorisch als Arbeitsplatzbeschreibung tätigkeits- oder ergebnisorientiert der Fall sein, taxonomisch in beliebigen Rangordnungen der Verrichtungen bzw. deren Ergebnisse. Die Kompetenzen können nicht nur auf Kursebene, sondern auch mit Bezug auf die einzelne Lerneinheit artikuliert werden.

Die mediale Form (3. Zeile der Grafik) und die Art des Wissens (4. Zeile der Grafik) gestalten das Lernen auf einer Mikroebene. Sowohl die mediale Form als auch die Wissensart stellen unterschiedliche kognitive Zugänge zu demselben Thema, d. h. zu derselben Lerneinheit bzw. zu demselben Knoten im semantischen Netz dar. Die grafische Darstellung der Gruppierungen innerhalb des Islam ist beispielsweise ein anderer kognitiver Zugang zum Thema als ein Text, in dem die Gruppierungen definiert werden. Da die Einheiten auf der Mikroebene sich im Wesentlichen kognitiv unterscheiden, werden sie Wissenseinheiten genannt. Sie sind die kleinsten Einheiten in der Web-Didaktik und damit die eigentlichen didaktischen Entitäten. Formal gesprochen sind sie eine Funktion von 4 Argumenten:

e = f(s,k,m,w)

mit S als Menge der semantischen Knoten (si), K als Menge der Kompetenzbeschreibungen (ki), M als Menge der Medien (mi) und W als Menge der Wissensarten (wi). Da die Relationen die Entitäten verknüpfen, gehören sie nicht zu den Merkmalen der Entitäten.

Wissenseinheiten werden zu Lerneinheiten zusammengefasst, wenn die Wissenseinheiten dem gleichen Thema (Schlagwort/Knoten) zugeordnet sind. Einer Lerneinheit sollten stets mindestens drei Wissenseinheiten angehören: Eine Wissenseinheit der Wissensart ‚Orientierungswissen‘, eine Wissenseinheit der Wissensart ‚Erklärungswissen‘ und eine Wissenseinheit der Wissensart ‚Handlungswissen‘! In der Regel dürften es aber mehr als drei Wissenseinheiten sein – beispielsweise: Szenario, Geschichte, Definition, Beispiel, Regel, Checkliste, Lernaufgabe, Testaufgabe und Quellenwissen. Diese Wissenseinheiten können darüber hinaus mehrfach, d. h. in unterschiedlichen Medien auftreten (beispielsweise Szenario als Video und/oder als verbalisierter und verschriftlichter Text). Die Lerneinheiten sind also eine Art von Container für Wissenseinheiten zum gleichen Thema.

1.2 Wissensorganisation

In der Web-Didaktik wird Wissen als Antwort auf Fragen verstanden, die ein Lernender stellen könnte. Wissensarten bestimmen sich demnach aufgrund der Fragen ‚Was gibt’s überhaupt? bzw. Ob es etwas gibt?‘ (Orientierungswissen, Know-if), ‚Warum etwas so ist, wie es ist?‘ und ‚Was es ist, wenn es ist‘ (Erklärungswissen, Know-why/Know-what), Wie es anwendbar ist?‘ (Handlungswissen, Know-how) und ‚Wo weiteres Wissen liegt?‘ (Quellenwissen, Know-where). Diese vier Gattungen von Wissensarten können beliebig binnendifferenziert werden. Es bleibt der praktischen Arbeit vorbehalten, ob man mit diesen 4 Fragekategorien und dementsprechend mit diesen 4 Wissensarten auf der obersten Abstraktionsebene auskommt. Denn es sind durchaus weitere Fragen denkbar, die dann auch neue spezifischere Wissensarten definieren.

Es soll hier nur die oberste Differenzierung der Hierarchie definiert werden.

Orientierungswissen ist Wissen, das jemand erwirbt, um sich in der Welt bzw. auf einem Gebiet zurechtzufinden, ohne schon in spezifischer Weise tätig zu werden. Wer Orientierungswissen hat, weiß mehr oder weniger, dass es den betreffenden Sachverhalt gibt, er weiß aber nicht unbedingt etwas damit anzufangen. Orientierungswissen motiviert Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Es gibt einen ersten Überblick über das Gebiet und seinen Kontext. Geeignet für eine Orientierung sind Szenarios, Geschichten und Fakten.

Handlungswissen ist solches Wissen, das sich auf reales Handeln von Menschen (Praktiken, Techniken, Methoden und Strategien) bezieht („gewusst wie“). Dafür werden gelegentlich auch die Begriffe „Können“ oder „Fertigkeiten“ (im Englischen „skills“) verwendet. Handlungswissen enthält Wissen über sinnvolle Zweck- und Zielsetzungen, Wissen über Bedingungen, unter denen menschliches Handeln sinnvoll ist, Wissen über Verfahrensweisen und Operationen, Wissen über Hilfsmittel, Wissen über Kontrollverfahren und Gütekriterien, Wissen über Gefahrenquellen.

Erklärungswissen liefert Gründe und Argumente dafür, warum etwas so ist, wie es ist. Es geht um Argumente, mit denen Behauptungen und Empfehlungen belegt werden. In der abendländischen Kultur spielen dabei wissenschaftliche Erklärungen eine besondere Rolle, insbesondere wenn Modelle angegeben werden, die Ursachen mit Wirkungen und Zwecke mit Mitteln verbinden. Unter Erklärungswissen wird sowohl das naturwissenschaftliche Erklären als auch das geisteswissenschaftliche Verstehen gefasst. Insbesondere gehören Begriffsbestimmungen zu den Erklärungen, weil sie das Was, worum es geht, klären.

Quellenwissen ist Wissen über Informationsquellen. „Gewusst wo“ ist oft ebenso wichtig, wie „Gewusst was“ oder „Gewusst wie“. Es ist sinnvoll, beim Kurs-Design zu überlegen, ob und wie weit Quellenwissen zugänglich gemacht werden kann und soll.

In dieser Metadatenhierarchie werden rezeptive Wissenseinheiten über Metadaten bestimmt. Mensch-maschinen-interaktive Wissenseinheiten werden mit einem Aufgaben-Vokabular charakterisiert. Diese in sich komplexen und differenzierten Wissenseinheiten sind auch nach Form und Funktion der Interaktion zu kennzeichnen. In der kognitiven Lerntheorie unterscheidet man zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen, das in einer Art Kompilation zur Kompetenz wird. Lernen ist demnach dann erfolgreich, wenn eine Synthese von deklarativem und prozeduralem Wissen hergestellt werden kann. Das geschieht normalerweise beim Aufgabenlösen (den in sich interaktiven Wissenseinheiten) und vor allem in der kommunikativen Kooperation. Für die kooperativen Wissenseinheiten ist unter diesem Gesichtspunkt eine entsprechende Typenhierarchie, die Wissensarten des prozeduralen Wissens bestimmt, entwickelt worden. Sie ist im Ausgang von der Dramaturgie des Gruppenlernens konzipiert.

1.3 Mediale Formen

Medien sind Darstellungsformen von Wirklichkeit. Lernende werden in der Regel nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit medialen Stellvertretern der Wirklichkeit konfrontiert. Medien können unter didaktischer Perspektive entlang ihres Abstraktionsgrades in Abbildungen, Schemata und Symbole geordnet werden. Durch Medien kann Komplexität reduziert, können seltene und real (noch) nicht vorkommende Phänomene dargestellt und wesentliche Merkmale hervorgehoben werden. Gegenstände, die von den Lernenden nicht in der Wirklichkeit selbst erfahren werden können, werden so in Lehr-Lern-Prozessen zugänglich. Wir unterscheiden zwischen Darstellungs- und Kommunikations- sowie interaktiven Medien, wie in der Matrix oben für die drei Typen von Lernobjekten aufgezeigt. So gibt es auch für die drei medialen Formen jeweils unterschiedliche Metadatensätze.

1.4 Zur formalen didaktischen Ontologie

Die klassische Didaktik unterscheidet zwischen Lernstoff und Lern-Methodik. Der Lernstoff wird über Lerneinheiten (Themen) im Unterricht sowie deren Verlauf bestimmt. In der Lern-Methodik wird der kognitive Zugang sowie dessen mediale Präsentation und der kognitive Verlauf in Lernoperationen festgelegt.

1.4.1 Sachlogische Objekte und Relationen (stoffliche Ebene)

Die Entitäten auf der stofflichen Ebene der didaktischen Ontologie sind die Lerneinheiten, d.h. einzelne Themen bzw. Inhalte, die im Hinblick auf den Lernverlauf eines Unterrichts bzw. Kurses isoliert werden können oder sogar isoliert werden müssen. Diese stofflichen Entitäten werden über Schlagwörter wie in einem Thesaurus repräsentiert. Der Zusammenhang dieser stofflichen, d.h. semantischen Entitäten wird im klassischen Unterricht durch den Unterrichtsverlauf bzw. in einem CBT über die Guided Tour hergestellt. Will man allerdings Individualisierung des Lernens zulassen bzw. ermöglichen, dann muss man die Möglichkeit schaffen, dass der Lernende den Verlauf seines Lernens selbst bestimmt. Das geht sinnvollerweise nur so, dass man den Zusammenhang der semantischen Entitäten über sachlogische Relationen (named links) wie in einem Thesaurus herstellt und diesen Zusammenhang dem Lernenden zugänglich macht.

Im Ausgang von der Thesaurus-Theorie können hierarchische und assoziative Relationen unterschieden werden. Ein hierarchisch relationierter Zusammenhang kann top-down oder bottem-up durchlaufen, d.h. gelernt werden. Bei den assoziativen Relationen wird zwischen symmetrischen und asymmetrischen unterschieden. Über die asymmetrischen Relationen kann man entweder in ihre Richtung – z.B. Grund→Folge – lernen oder auch in ihrer Gegenrichtung. Bei den symmetrischen Relation – wie z.B. ist-alternativ-zu – muss didaktisch bzw. selbst-didaktisch entschieden werden.

1.4.2 Didaktische Objekte und Relationen (didaktische Ebene)

Die Entitäten auf der didaktischen Ebene sind die Wissenseinheiten (s.o.). Sie sind grundsätzlich durch mindestens eine Entität der semantischen Ebene prädiziert (Wissenseinheit ist Element einer Lerneinheit). Neben den sachlogischen Relationen verwenden wir in der Web-Didaktik drei didaktische Relationen: didaktisch-vor (prerequisite), um guided tours gestalten zu können, gehört-zu (belongs-to), um bspw. Aufgaben oder Beispiele bestimmten Erklärungen zuordnen zu können, und ist-Form-von, um Formalisierungen wie in mathematischen Lernkontexten kennzeichnen zu können. Die didaktischen Lern-Verläufe bestimmen sich nicht allein über die didaktischen Relationen sondern mehr noch über didaktische Muster und Regeln, die aus Praxis und Forschung stammen. Hier ein paar Beispiele: Rule-driven Design, example-driven Disign, theorie-driven Design u.v.a.m, die im Instructional Disign (USA) erforscht wurden; Regeln wie: Medien verlangsamen oder beschleunigen Informationsaufnahme beim Lernen; Medien vertiefen das Lernen oder halten es oberflächlich u.v.a.m. In der Web-Didaktik sind solche Muster und Regeln zusammengestellt worden.